Reale Utopien: Vom Wunschdenken zur Wirklichkeit
Wohnen neu gedacht: Lena Radau erforscht in ihrer Doktorarbeit alternative Formen des Zusammenlebens – und will eine Brücke schlagen zwischen Utopie und Realität.
Wohnen neu gedacht: Lena Radau erforscht in ihrer Doktorarbeit alternative Formen des Zusammenlebens – und will eine Brücke schlagen zwischen Utopie und Realität.
Wie könnte eine bessere Welt aussehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Gruppe von Studierenden, die sich für einen Kurs am Institut für Soziologie der LMU angemeldet haben. Heute ist in der Mitte des Seminarraums auf einem der Tische ein großes Monopoly-Spielbrett ausgebreitet. Am Morgen haben die Teilnehmenden damit Utopoly gespielt – ein Spiel, das entwickelt wurde, um utopisches Denken zu fördern.
„Es ist oft schwer, über den eigenen Alltag hinauszudenken, weil bestehende Verhältnisse uns selbstverständlich und unumstößlich erscheinen“, erklärt Lena Radau, Doktorandin am Lehrstuhl Soziale Ungleichheit und Soziale Strukturen der LMU. Sie leitet das Seminar mit dem Titel Real Utopias und hat das Konzept dafür ausgearbeitet.
Um die gewohnten Denkmuster zu durchbrechen, hat sie Utopoly mit auf den Kursplan gesetzt. Das Spiel veranschaulicht zunächst auf spielerische Weise die negativen Auswirkungen sozialer Ungleichheit. „Dafür könnte man übrigens auch einfach Monopoly spielen“, meint Radau. Schließlich sei das bekannte Gesellschaftsspiel ursprünglich als Kritik am ungebremsten Kapitalismus konzipiert worden. Utopoly lädt die Spielenden darüber hinaus dazu ein, gemeinsam Lösungen für die erkannten Probleme zu entwickeln.
Inzwischen haben sich die Studierenden in kleinen Grüppchen zusammengefunden, um ihre Visionen für die Zukunft zu diskutieren. Dabei sollen sie die Grundprinzipien der sogenannten realutopischen Soziologie verstehen und anwenden. Reale Utopien? Das klingt erst einmal paradox. Schließlich ist eine Utopie, der Wortherkunft nach, ein Nicht-Ort – ein fiktiver Gegenentwurf zur Wirklichkeit. Doch Realutopien versuchen, den angeblich so unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Wunschdenken und echter Welt aufzulösen.
Das Konzept geht zurück auf den US-Soziologen und Kapitalismus-Kritiker Erik Olin Wright. Seine These: Der ungeregelte Kapitalismus erzeugt zunehmende Ungleichheit, was eine Vielzahl von Problemen nach sich zieht. „In den USA lässt sich aktuell beobachten, welche Folgen ein weitgehend uneingeschränkter Kapitalismus für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt haben kann“, bemerkt Radau. Das kapitalistische Streben nach immer mehr Profit ohne Rücksicht auf soziale oder Umweltfaktoren zerstöre auch die natürlichen Lebensgrundlagen, da es auf unbegrenzten Ressourcenverbrauch angewiesen ist.
Lena Radau
Der realutopische Ansatz beschränkt sich nicht darauf, Missstände zu benennen, sondern fragt: Was können wir konkret dagegen tun? „Als ich mich das erste Mal mit realutopischer Soziologie beschäftigte, war ich begeistert von der Idee, mit meiner Forschung etwas verbessern zu können“, erzählt Radau. Wright nennt das emanzipatorische Sozialforschung.
Ihr Ziel ist es nicht nur, soziale Probleme zu beschreiben, sondern dazu beizutragen, dass Menschen aktiv werden und gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Im Zentrum steht das Prinzip des „Aufblühens“: Alle sollen die Möglichkeit haben, ihre Potenziale zu entfalten und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder sozialem Status.
Und das funktioniert so: Zunächst gilt es, eine Diagnose zu stellen – also zu analysieren, was in der Welt falsch läuft und warum. Darauf folgt die Frage: Wie könnte es besser gehen? Anschließend sucht man nach konkreten Beispielen für Dinge, die vielleicht utopisch klingen, aber schon heute in der realen Welt existieren: solidarische Landwirtschaftsprojekte etwa, Modellschulen oder alternative Formen des Zusammenlebens.
Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Mondragón Corporación Cooperativa in Spanien – eine kollektiv organisierte Unternehmensstruktur, die vollständig ihren Beschäftigten gehört. Zu der Industriegenossenschaft gehören 95 Unternehmen verschiedener Sektoren wie Maschinenbau, Bauindustrie, Einzelhandel, Banken und Technologiezentren. Heute ist sie das siebtgrößte Unternehmen Spaniens. „Wenn ich den Studierenden zu Beginn des Seminars Mondragón vorstelle, sind immer alle total überrascht und begeistert, dass ein so großes Wirtschaftsunternehmen tatsächlich als reale Utopie existiert“, sagt Radau.
Wenn sich eine Idee in den bestehenden Strukturen als überlebensfähig erweist, kann es sein, dass gesamtgesellschaftliches Potenzial in ihr schlummert. Das Ziel der emanzipatorischen Soziologie ist es dann, für die Keimlinge realutopischer Ansätze den entsprechenden Nährboden zu schaffen, auf dem sie über ihren Exotenstatus hinauswachsen und gesellschaftliche Institutionen nachhaltig transformieren können – etwa durch Gesetzgebung, politische Maßnahmen oder institutionelle Förderung.
Einer der Bereiche, in dem dringender Transformationsbedarf herrscht, ist der Wohnsektor, weiß Radau: „Wohnen ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis – und ein Menschenrecht.“ Doch die Lage auf den Wohnungsmärkten ist angespannt. Besonders extrem zeigt sich das in großen Metropolen wie München: „Es gibt zu wenig Wohnungen, die Mieten sind hoch, und selbst mit einem mittleren Einkommen ist es inzwischen schwer, geeigneten Wohnraum zu finden.“
Lena Radau
Im Rahmen ihrer Dissertation beschäftigt sich Lena Radau mit dem Thema Wohngenossenschaften. In Deutschland gibt es diese Art und Weise, Wohnraum zu schaffen, bereits seit über einem Jahrhundert – eine wahrgewordene Utopie. Genossenschaften verfügen hierzulande sogar über einen rechtlichen Rahmen – das Genossenschaftsgesetz – und sind damit institutionell verankert. In vielen anderen Ländern wird deswegen auf Deutschland als Positivbeispiel verwiesen.
„Das Interessante bei Genossenschaften ist, dass sie aufgrund ihrer demokratischen Struktur das Potenzial haben, eine Transformation voranzutreiben“, erläutert Radau. Das mache sie zu klassischen Kandidaten für die realutopische Forschung.
Lena Radau möchte sich genauer anschauen, wer in Deutschland überhaupt in Genossenschaften lebt: „Mein Ziel ist es, die soziale Struktur der Mitglieder aufzuarbeiten und herauszufinden, welche Motivation sie hatten, eine Genossenschaft zu gründen, wie sie den Prozess der Gründung erlebt haben, an welchen Stellen es vielleicht auch Schwierigkeiten gab und was die Genossenschaft für sie bedeutet.“ Dabei bezieht sie auch Verantwortliche aus Politik und Verwaltung ein, um zu verstehen, welche Erfahrungen sie mit der Förderung solcher Projekte gemacht haben und welche Hindernisse oder Chancen sie sehen.
„Eine Genossenschaftsgründung ist nämlich mit hohem Aufwand verbunden“, erklärt die Doktorandin. Die Einlagen in neue Projekte können mehrere Zehntausend Euro betragen. Man muss wissen, wie man Anträge stellt, Zuschüsse beantragt und mit Behörden verhandelt. „Es braucht Zeit, Geld und das nötige Wissen.“ Sie will die Vorstellung von den Genossenschaften als den „guten“ Anbietern von Wohnraum, der medial, in der Politik und auch in der Forschung vorherrscht, systematisch und empirisch überprüfen. „Das soll keineswegs eine Kritik an den bestehenden Projekten sein“, betont Lena Radau. „Mein Forschungsinteresse richtet sich vielmehr darauf, wie sich das System so weiterentwickeln lässt, dass mehr Menschen davon profitieren.“
Auch die von ihr angebotenen Kurse an der LMU versucht die Soziologin so zu gestalten, dass sie der Logik realutopischer Soziologie folgen. Wenn sie Real Utopias unterrichtet, startet sie immer mit der Frage: Was wäre eure Idealvorstellung von einem Seminar?
Manche wünschen sich Unterricht im Freien, andere möchten keine Hausaufgaben bekommen oder später anfangen, um nicht so früh aufstehen zu müssen. „Das sind alles valide Punkte, die ich – soweit möglich – in die Seminarstruktur integriere. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieser Ansatz sehr gut funktioniert.“ Oft lernen die Studierenden dann sogar mehr, weil sie sich frei und ohne Druck mit den Themen auseinandersetzen können. Und auch inhaltlich dürfen die Teilnehmenden mitentscheiden, mit welchen sozialen Missständen sie sich beschäftigen wollen.
Im letzten Jahr konnten die Kursteilnehmenden sogar selbst aktiv werden: Der Kurs fiel zufällig genau in die Bewerbungsphase von MünchenBudget. Das Programm ermöglicht es Bürgerinnen und Bürgern, sich partizipativ an der Budgetgestaltung der Stadt München zu beteiligen, indem sie eigene Ideen für die Stadtentwicklung einreichen. Diese können dann mit bis zu 100.000 Euro gefördert werden.
„Kurz vor Seminarbeginn stieß ich auf das Projekt und habe es spontan in den Kurs integriert“, erinnert sich Radau. Charles Thallinger gehört zu den Studierenden, die damals eine der Bewerbungen ausgearbeitet haben: „Wir haben Halterungen für Pfandflaschen an öffentlichen Mülleimern vorgeschlagen, damit Menschen, die Flaschen sammeln, sie direkt entnehmen können. Ich komme aus Stuttgart – dort gibt es das schon länger.“
Die Pfandflaschenhalter spiegeln im Kleinen alles wider, was eine echte Realutopie braucht: Das System wird auf Mängel überprüft, dann sucht man nach bereits existierenden Lösungsansätzen und versucht diese auszuweiten. „Wir können von einer besseren Welt träumen und hoffen, dass sie von allein zu uns kommt“, sagt Lena Radau. „Oder aber wir arbeiten mit dem, was wir haben, stärken und verbessern Ansätze, die es heute schon gibt, und nähern uns aktiv Stück für Stück einer besseren Zukunft.“
Lena Radau ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Soziale Ungleichheit und Soziale Strukturen der LMU.
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